Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren

Herzlichen Dank für die Einladung zu Ihrem Sommerfest.

Ich freue mich sehr, bei Ihnen im schönen Thun zu sein. Dem Tor zum Berner Oberland, am Thunersee und an der Aare. Was hier bachab geht, fliesst irgendwann beim Bundeshaus unter meinem Bürofenster vorbei und noch viel später in Basel - dann quasi in «Rhein-Form». Ich hätte hierher schwimmen können, gegen den Strom. Beides - Schwimmen und gegen den Strom - habe ich in meinem ersten halben Jahr im Bundesrat üben können. Ich habe mindestens schon das Fröschli-Abzeichen.

Auf dem Weg wäre ich auch in Solothurn vorbeigeschwommen. Apropos: Ein grosser Solothurner hat einmal gesagt: «Aus der Geschichte lernt man immer wieder, dass man nichts lernt.» Es war nicht Guido Fluri, es war Willi Ritschard.

Meine Damen und Herren

Dass Sie heute hier zusammenkommen und gemeinsam den Sommer und das Leben feiern, erfüllt mich mit grosser Freude. Und ich spüre Dankbarkeit und Demut, dass ich als Justizminister vor Ihnen stehen darf. Als Jugendlicher hätte ich darauf überhaupt keine Lust gehabt! Ich war sehr skeptisch gegenüber staatlichen Institutionen, den Rechtsstaat sah ich eher als Problem.

Das hat sich schlagartig geändert, als ich mit 25 Jahren für Helvetas in Haiti war. Ich habe dort mit lokalen Bauern gearbeitet und erfahren, dass man mit Engagement das Leben der Menschen verändern und verbessern kann. Dann wurde mein Mitbewohner und Mitarbeiter, ein Haitianer, wegen seines politischen Engagements inhaftiert und gefoltert. Die Ohnmacht und Verzweiflung, die ich angesichts dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit spürte, haben mich geprägt. Das bewegt mich noch heute.

Damals hat sich eine Erkenntnis in mein Bewusstsein gebrannt: Ein funktionierender Rechtsstaat ist eine grosse Errungenschaft ist, die es zu verteidigen gilt. Er schützt uns vor Willkür und Gewalt, ermöglicht, dass Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden und er schafft Sicherheit, die uns erlaubt, uns zu entfalten. Kurz: er trägt wesentlich zu unserer Freiheit bei.

Meine Damen und Herren

Ich weiss: In Ihrem Fall hat der Rechtsstaat diese grossen Versprechen nicht eingelöst. Ganz im Gegenteil: er hat Ihnen all das verwehrt. Der Rechtsstaat hat fürchterlich versagt. Die meisten von Ihnen haben Behörden und Institutionen als Feinde kennengelernt und - völlig zu Recht - jedes Vertrauen in sie verloren. Und ich kann nur erahnen, wie grosse Ihre Wut, Ihre Verzweiflung und Ihre Ohnmacht gewesen sein müssen. Aber wissen Sie, warum wir heute alle hier sind? Weil Sie sich dieser Ohnmacht nicht ergeben haben. Heute ist dieses Unrecht offiziell anerkannt. Vom Bundesrat, von der Bevölkerung. Mit dem Solidaritätsbeitrag. Dank der Wiedergutmachungsinitiative und dank Guido Fluri.

Die grosse Anzahl ehemaliger Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen hier am Sommerfest zeigt eindrücklich, dass Gesetze Gutes bewirken können. Ich kann Ihnen sagen: Das ist für einen Justizminister eine sehr wohltuende Feststellung.

Was in den letzten Jahren geschehen ist, zeigt: Unser Rechtsstaat ist alles andere als perfekt, aber er bietet uns auch die Chance, ihn zu verbessern. Unsere direkte Demokratie gibt uns auch Werkzeuge in die Hand, um Fehler im System zu erkennen und zu reparieren. Den Rechtsstaat gilt es nicht nur zu verteidigen, sondern auch zu hinterfragen, weiterzuentwickeln und so zu verbessern. Dafür gibt es wohl kein beeindruckenderes Beispiel als Sie, Guido Fluri und die Wiedergutmachungsinitiative

Dürrenmatt hat über die Schweiz einmal gesagt: «Nicht das liebe ich, was Du bist, nicht das was Du warst, aber deine Möglichkeit liebe ich, die Gnade, die immer hell über dir schwebt.»

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, dass Ihr Vertrauen in den Staat und seine heutigen Institutionen wieder wachsen kann. Auch dank seiner Möglichkeiten. Natürlich kann ein Gesetz ein geschehenes Unrecht nicht ungeschehen machen. Aber es kann immerhin dazu beitragen, ein Stück Gerechtigkeit wiederherstellen.

Und das Wichtigste, meine Damen und Herren:

Wir können - wir müssen! - alles tun, damit sich eine solche himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht wiederholt. Auch diesbezüglich ist einiges passiert: Mit dem Nationalen Forschungsprogramm, mit grossartigen Projekten wie dem Erzählbistro: Dank der Guido Fluri Stiftung und dank Ihnen allen.

Nous ne devons pas relâcher nos efforts. En tant que conseiller fédéral - et tout particulièrement en tant que ministre de la justice - je m'engage pour que la mémoire des souffrances endurées et des injustices commises reste vive, et pour que nous tirions les leçons des erreurs du passé. Je vous en fait la promesse.

C'est aussi pour ça que le Conseil fédéral soutient des projets d'entraide comme celui du « bistrot d'échange ». Je tiens à remercier également la Fondation Guido Fluri. C'est grâce à sa généreuse contribution que ce projet formidable et important peut se poursuive.

Meine Damen und Herren

Ich bin Justizminister und immer auf der Seite der Schwachen: Ich bin Asylminister, ich kämpfe gegen häusliche Gewalt, für Gleichstellung, gegen organisierte Kriminalität - und ich bin Fan des FC Basel. Ich bin auch auf Ihrer Seite, aber eigentlich haben Sie das überhaupt nicht mehr nötig, im Gegenteil: Ich bewundere Sie alle. Für Ihre Stärke, für Ihre Resilienz und für Ihre Lebensfreude. Ich bewundere, wie Sie sich gegenseitig unterstützen und wie Sie Mut und Zuversicht schöpfen. Ich bewundere, dass sie hinstehen und ihre Geschichte erzählen.

Sie alle gehören zu den Starken.

Ihrem Mut ist es zu verdanken, dass wir heute in der Schweiz ein Gesetz haben, das in ganz Europa als Vorbild gilt. Der Europarat, Hüter der Menschenrechte, empfiehlt seinen 46 Mitgliedsstaaten, frühere Missbrauchsfälle nach Schweizer Vorbild aufzuarbeiten. Ein schöner Erfolg! Ihr Erfolg! Ein Erfolg, der auch ganz vielen Menschen in anderen Ländern zugutekommt.

«Die Schicksale der Betroffenen habe ich immer vor Augen.»

Das ist jetzt von Guido Fluri. Und ich schliesse mich ihm gerne an: Ihre Geschichten und Ihre Schicksale gehen mir direkt ans und ins Herz. Noch als Nationalrat hatte ich mich für die Verlängerung der Meldefrist für die Solidaritätsbeiträge und gegen die Kürzung der Ergänzungsleistungen eingesetzt. Beides ist heute Realität.

Nie - nicht vorher und nicht nachher - habe ich während meinem politischen Engagement Rückmeldungen erhalten, die mich dermassen tief bewegt haben. Nie schien mir politisches Engagement sinnvoller, wichtiger oder selbstverständlicher.

Ich trage Ihre Geschichten auch als Bundesrat immer bei mir. Und das ist gut so. Denn Ihre Geschichten erinnern mich daran, was der Rechtsstaat anrichten und zerstören kann, wenn er zum Unrechtsstaat wird. Sie erinnern mich daran, was meine Aufgabe ist.

Und zusammen können wir sogar beweisen, dass Willi Ritschard eben doch nicht immer recht hatte: Manchmal lernen wir zum Glück aus der Geschichte. Davon bin ich überzeugt.

Ich wünsche Ihnen von Herzen ein schönes Sommerfest!

Sommerfest der Guido Fluri Stiftung